Spruchband zum Holocaust-Gedenken

Wir zeigten beim Heimspiel gegen den SC Paderborn vor Anpfiff anlässlich des 80. Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau das Spruchband
„80 Jahre vom Faschmismus befreit! Unser aller Pflicht, dass es so bleibt!“
Für die Hintergründe dazu möchten wir hier gerne den Text eines unserer Mitglieder in der Rubrik „Hinnergedanke“ des Kurvenhefts „BLOCK am Spieltag“ dokumentieren:
HINNERGEDANKE
Gedanken zum Gedenken an die Opfer der Shoa
und der Bedeutung für uns als Lilienfans & Südtribüne
Am heutigen Spieltag und dem morgigen offiziellen 80. Jahrestag zur Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee wird es deutschlandweit verschiedene Aktionen zum Gedenken an die Opfer der NS-Zeit geben. Auch in Darmstadt werden durch den Verein und verschiedene Fan-Institutionen passende Aktionsformen auf die Beine gestellt. In diesem Text möchte ich versuchen darauf einzugehen, was diese Zeit und ihre Opfer mit uns als Lilienfans zu tun haben und was sich daraus auch heute, 80 Jahre später, noch für uns ableitet.
Denn – seien wir ehrlich – viele von uns und viele Menschen um uns herum sind abgestumpft, was das Thema Nazi-Zeit, Drittes Reich und den Holocaust angeht. Wir wachsen alle damit auf und spätestens ab der Schule kommen wir ständig damit in Berührung. Die Grausamkeit der Nazis und das Grauen für ihre Opfer von damals zieht dabei viele förmlich an, sich mit der Geschichte zu beschäftigen, als wäre diese Zeit ein besonders krasser Horrorfilm und lediglich basierend auf einer wahren Gegebenheit. Nein, es war Realität und es gab tatsächlich Menschen, die andere – egal ob Kinder, Frauen, Alte oder Kranke – kaltblütig ermordet haben, weil sie dem „falschen Glauben“ angehörten oder auf andere Weise für das Nazi-Regime als „Untermenschen“ galten. Und mit jedem Buch, jeder Reportage, jeder Dokumentation vervollständigen wir unser Bild der Geschichte, aber stumpfen auch ein Stück weiter ab. Für viele ist es vielleicht auch ein paarmal zu oft, dass sie von den Gräueltaten der Nazis gehört haben. Andere fragen sich, was das eigentlich noch mit ihnen im Jetzt und Heute zu tun hat? Und natürlich haben einige Leute auch ein bewusstes Interesse daran, dass das Geschehene in Vergessenheit gerät, weil sie selbst ähnliches Rassendenken und Vernichtungsfantasien in sich tragen, wie die Täter von damals.
Aus dieser gefährlichen Mischung ist eine Stimmung entstanden, die nun 80 Jahre nach der Befreiung zu einer Situation des schleichenden Geschichtsrevisionismus führt und Dinge, die lange als unsagbar galten auf einmal wieder sagbar sind. Jedes Gedenken an die Opfer von damals wird durch eine solche gesellschaftliche Stimmung gegenüber jüdischen Menschen, Menschen muslimischen Glaubens, Menschen mit Migrationshintergrund und weiteren Minderheiten in diesem Land wirkungs- und sinnlos. Denn Gedenken heißt nicht nur einmal im Jahr Blumen hinzulegen oder ein Spruchband zu machen, sondern eine Haltung und Werte im Alltag zu vertreten, die den Opfern gerecht wird. Und hier kommen auch wir als Fanszene und als Kurve ins Spiel…
Die alte Mär von „Fußball ist Fußball und Politik ist Politik“ ist nicht zufällig durch eine Nazi-Band verbreitet worden. Fußball, die Vereine und die Kurven als Spiegelbild der Gesellschaft sind politisch. Punkt. Diese Phrase ist ein alter Versuch, den Freiraum Fankurve frei von gesellschaftspolitischen Statements zu halten, beispielsweise also Positionierungen für Minderheiten oder andere vermeintlich „linke“ Positionen zu unterbinden und einen Raum für rechte Agitation zu schaffen. Dass Kurven aber, wenn sie staatliche Repression, die Ticketpreise oder die Kommerzialisierung des Sports anprangern oder Spenden für vom Kapitalismus abgehängte Menschen sammeln ebenfalls politische Arbeit machen, wird dabei oft vergessen. Allein unsere Präsenz als Ultras und mündige, kritische Fans bei jedem Spiel und in jedem Verein ist natürlich politisch. Genauso wie das Selbstverständnis, dass alle, die die Lilie im Herzen tragen – egal welches Geschlecht, welche Religion, welche Hautfarbe oder welche Sexualität – im Kern gleich sind, natürlich ebenfalls hochpolitisch ist. Wenn wir also begreifen, dass sehr vieles, was wir tun, ohnehin politisch ist, so müssen wir uns auch damit auseinandersetzen, welche Rolle wir in Bezug auf die NS-Zeit, aber auch auf die heutigen Zeiten, einnehmen wollen.
Unsere Vereinsgeschichte gibt uns hier einen Kompass vor. Unser Ehrenvorsitzender Dr. Karl Heß, der eine engagierte Vollblut-Lilie, anerkannter Rechtsanwalt und deutscher Bürger jüdischen Glaubens war, wurde 1933 von den Nazis aus seinem Amt, seinem Beruf und später aus seiner Heimat vertrieben. Er floh nach Brasilien und kehrte nach dem 2. Weltkrieg und nachdem seine gesamte Familie in den Gaskammern ermordet wurde nach Darmstadt zurück, um – wie er selbst sagte – „Hitler nicht den Sieg zu gönnen, ihm seine Heimat genommen zu haben“. Schändlicherweise war die Aufarbeitung und die Entnazifizierung der Gesellschaft in Deutschland (und auch in Darmstadt) derart lasch, dass Heß hier als Jude weiterhin gedemütigt wurde und auf der Arbeit und im Alltag Ausgrenzung erlebte. Er kehrte zurück nach Brasilien, wo er bei der Familie seines Sohnes bis zu seinem Lebensende lebte. Nicht nur er, sondern weitere jüdische SV98-Mitglieder wurden vertrieben, deportiert, gedemütigt und ermordet. In ihrem Gedenken zu handeln bedeutet, ihre Geschichte zu wiederholen, um deutlich zu machen, dass auch echte 98er Opfer der NS-Zeit waren und wir ihnen als Verein und Fans etwas schuldig sind.
Das heißt vor allem auch hier sich bewusst zu machen, dass absolut niemand in unseren Reihen Diskriminierung aufgrund seiner Herkunft oder anderer Merkmale erfahren darf. Auch vermeintlich „harmlose“ Sprüche sind der Beginn von der Herabstufung, die auch in den 30er-Jahren schleichend begann, sich mit dem Ausschluss einzelner Menschen aus den Vereinen und dem gesellschaftlichen Leben fortsetzte und schlussendlich in Massen-Deportationen, Konzentrationslagern und Massenmord endeten. Wenn wir uns unserer eigenen Vereinsgeschichte und dem Gedenken an Dr. Heß und die vielen Millionen Opfer würdig erweisen wollen, dann gestalten wir unsere Kurve und das ganze Bölle als einen Ort, an dem sich alle wohl fühlen können, die unseren Verein lieben und seine Werte teilen. Wie auch in der Gesellschaft haben wir teilweise unterschiedliche Meinungen, können uns auch mal darüber in die Wolle kriegen, aber im Grunde sind wir auch dadurch ein Verbindungsort aller sozialen Klassen, Generationen und Menschen unterschiedlicher Herkunft. Wir stehen in den Stadien in der ersten Reihe, wenn es um Demokratie und Integration geht und diese Rolle müssen wir uns bewusst machen. Denn die Feinde der Demokratie sind ebenfalls die Feinde freier Fankurven und Orte wie unserer. Sie wollen nicht, dass wir unsere Geschichten erzählen und auch nicht, dass wir unsere eigenen Geschichten schreiben. Sie wollen uns für ihren eigenen Vorteil gegeneinander ausspielen und uns glauben machen, dass unsere Vielfalt eine Schwäche darstellt. Alle, die in diesem Stadion aufgewachsen sind, so wie ich, wissen, dass gerade die große Vielfalt, die dennoch im Kern eine unglaubliche Geschlossenheit bildet, eine unserer größten Stärken ist und diesen Sport auch ausmacht. Auf den Rängen und dem Rasen.
Gerade deshalb gilt es nicht nur heute, sondern morgen und in Zukunft sich unserer Geschichte, unserer Werte und unserer Verantwortung bewusst zu sein. Denn wenn wir es ernst meinen mit einer freien Kurve, dann kommen wir um dieses notwendige Engagement nicht herum. Wir alle müssen uns als Teil davon verstehen, denn sonst ist jedes Gedenken an die Opfer der NS-Zeit, an verstorbene und vertriebene Darmstädterinnen und Darmstädter nicht allzu viel wert als gutgemeinte Worte. Es wird daher heute ein Spruchband auf der Süd gezeigt werden, das den Grundsatz dieses Textes in unseren Augen versucht auf den Punkt zu bringen:
„80 Jahre vom Faschismus befreit. Unser aller Pflicht ist, dass es so bleibt!“
Des Weiteren wollen wir noch auf den morgigen Gedenkspaziergang um 17 Uhr vom Gründungsort des SV 98, dem Schlossgartenplatz, ans Böllenfalltor hinweisen, wo an verschiedenen Stationen Halt gemacht wird und um 19 Uhr am Dr.-Karl-Heß-Platz den Opfern des Holocausts gemeinsam gedacht wird. Wer Zeit hat, sollte sich hier anschließen.
NIE WIEDER IST JETZT!

Bilder Update 24/25
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